Halt am Buchdeckel
Kurz vor Beginn trugen die Organisatoren noch eilig zusätzliche Stühle in den Saal. Die Hoffnung, die im Programmheft als Befürchtung getarnt war, hatte sich erfüllt: Wie zur Eröffnung vor acht Jahren drohte das Literaturhaus aus allen Nähten zu platzen. Damals, wie am Montag, war der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom zu Gast.
Eine Berühmtheit der internationalen Literaturszene war nach Darmstadt gekommen. Der Schriftsteller las und signierte – ein kurzer, ein langer Text, eindringlich und schön gelesen, warmer Applaus. Keine Fragen, keine Kommentare. Der Mann mit den in Skepsis erstarrten Augenbrauen ist ein höflicher Mensch. Nur seine Körpersprache signalisierte Verlegenheit, deutete ein leichtes Unbehagen an. Der Schriftsteller Nooteboom, der die feinsten Regungen der menschlichen Seele beschreibt, produziert sich nicht gern vor einem im Dunkeln sitzenden Publikum.
Etwas stirbt fortwährend in unserer Welt
Eingeleitet hatte Nooteboom seinen Leseabend mit dem ersten Kapitel aus dem Debütroman „Philip und die anderen“. Als das Buch 1954 in den Niederlanden erschien, war er gerade zwanzig Jahre alt. Vier Jahre später wurde der Roman unter dem Titel „Das Paradies ist nebenan“ ins Deutsche übersetzt, doch Nooteboom distanzierte sich davon. Zu schwärmerisch erschien es ihm. In Darmstadt sagte er: „Ich stehe heute zu diesem Buch.“ Er las leidenschaftslos, fast lakonisch. „Beim Lesen dieser Zeilen“, sagte Nooteboom, „kommt es mir vor, als würde ich eine alte Fotografie aus meiner Jugendzeit betrachten.“ Das war nicht kokett – da schwang Wehmut mit, als schmerzte ihn die Konfrontation mit dem Bild eines früheren Ichs, das ihm heute fremd geworden ist.
Die Anspannung löste sich, als er zu seinem jüngsten Roman Allerseelen überging. Die Arme, die er anfangs noch fest um seinen kräftigen Oberkörper verschränkt hatte, öffneten sich. Mit ihnen auch der Spielraum für Gestik – das zögerliche Ringen der Hände um Halt: am Tisch, am Knie, am Buchdeckel. Die zierlich wirkenden Beine tänzelten nun im Rhythmus des Textes. Kämpfte sich Arthur Daane, Dokumentarfilmer, Kameramann und Protagonist des Romans, durch das Schneegestöber auf den Straßen Berlins, wechselten des Autors linkes und rechtes Bein hastig die Position, als würden sie mitlaufen.
Der Roman Allerseelen ist, wie die meisten seiner Bücher, eine literarische Reflexion, die um philosophische Fragen kreist. Nooteboom changiert zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Zeit wird zu einem dehnbaren Begriff.
Und während die Lesung auf das Ende zusteuerte, hielt sich der Schriftsteller am Wasserglas fest, das auf dem Tisch vor ihm stand, und las die Zeilen: „Etwas stirbt fortwährend in unserer Welt.“ In diesem Moment löste sich ein Sauerstoffbläschen vom Glasrand, stieg auf und zerplatzte an der Oberfläche – leise.
Der Text ist in einer kürzeren Fassung am 12. November 2003 im Darmstädter Echo erschienen.