„Verheerungen des Vergessens“

Annie Ernaux dokumentiert in „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ die Demenz ihrer Mutter – und legt dabei offen, was wir über Alter, Fürsorge und Nähe lieber verdrängen. Eine Kartografierung des Verschwindens: schmerzhaft, präzise, notwendig.

Kurz vor meiner Flucht in die verordnete Entspannung der Osterferien landete ich noch im hektischen Transitraum der Bahnhofsbuchhandlung. Zwischen Titeln wie „Der Pinguin, der fliegen lernte“ und „Genial ernährt“ fiel mir ein schmaler Band in auf: Annie Ernaux „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“. Ich griff zu. Was konnte ich schon falsch machen? Nobelpreisträgerin! Berührender Titel! Ich zahle mit Kreditkarte, bitte. Danke. Abfahrt.

Was habe ich auch erwartet? Einen stillen, begleitenden Text vielleicht. Einen literarischen Trostspender für die Dauer einer Zugfahrt. Doch schon nach wenigen Seiten hob ich irritiert den Blick vom Buch, hinaus auf die vorbeirauschende Landschaft, und fragte mich: Fehl- oder Glücksgriff?

Dass ich mir diese Frage überhaupt stellen musste, lag auch daran, dass Ernaux nicht schreibt, um zu beruhigen. Ihre Literatur hat nichts Tröstliches – und genau darin liegt ihre Größe. Ihre Selbstbezeichnung als „Ethnologin ihrer selbst“ zeigt, worum es ihr geht: Sie nutzt autobiografisches Material nicht für persönliche Erinnerungsarbeit, sondern als Methode, um gesellschaftliche Strukturen sichtbar zu machen. Mit der analytischen Distanz einer Forscherin verwandelt sie ihr Leben in ein Untersuchungsfeld, in dem sich Spuren von Klassenkampf, Geschlechterverhältnissen und sozialer Mobilität freilegen lassen.

Schreiben, um den Schmerz zu erschöpfen

Eine Zugfahrt lang war ich in einer Zeitkapsel der menschlichen Zumutungen und Zurichtungen gefangen, jenen, die das Alter bereithält. Ihre rohen, ungeschönten Notizen aus den Jahren 1983 bis 1986 dokumentieren den schleichenden Identitätsverlust und den körperlichen Verfall ihrer an Demenz erkrankten Mutter. Gleichzeitig beschreibt sie damit die Erosion jener fundamentalen Bindung, die uns als Menschen definiert: die zu unseren Eltern.

Wenn die Mutter zu einem hilflosen Kind wird, wenn vertraute Muster der Kommunikation zerbrechen, entsteht ein semantisches Vakuum, das die Tochter in einen Zustand existenzieller Haltlosigkeit versetzt. Die „Dunkelheit“, die ihre Mutter als eines der letzten Wörter in einem nicht abgeschickten Brief benennt, ist die der persönlichen Trauer – und zugleich die einer Macht- und Sprachlosigkeit angesichts des Zerfalls. „Den Schmerz vielleicht durchs Erzählen, Beschreiben aufbrauchen, ihn erschöpfen“, schreibt Ernaux. Aber man ahnt, dass dieser Schmerz unerschöpflich bleiben wird.

Gefangen zwischen Nähe und Entfremdung

Was diesen Text von konventioneller Erinnerungsliteratur unterscheidet, ist der schonungslose, beinahe kalte Blick, mit dem Ernaux die eigene Verstrickung seziert. In ihrem stilistischen Minimalismus („Beim Schreiben darauf achten, mich nicht meinen Gefühlen hinzugeben“), dieser für Ernaux so charakteristischen unsentimentalen Präzision, liegt eine politische Dimension: Sie verweigert sich jeder sentimentalen Überhöhung oder therapeutischen Sinnstiftung. Die Demenz der Mutter ist, was sie ist: eine unbarmherzig voranschreitende Auslöschung des mit einem selbst in Liebe verbundenen Gegenübers. Wir werden unfreiwillige Zeugen der „Verheerungen des Vergessens“.

Was Ernaux hier vorlegt, ist ein Text von kompromissloser Dringlichkeit, der Demenz nicht in den bequemen Kategorien medizinischer Diskurse verhandelt. Indem sie den schleichenden Verlust der Mutter dokumentiert, kartografiert sie auch jene Zwischenräume der Sprachlosigkeit, in denen sich Angehörige von Alzheimer-Patienten bewegen – gefangen zwischen Erinnerung und Gegenwart, zwischen Vertrautheit und Entfremdung. Es ist die Chronik einer doppelten Auslöschung: jener der Erkrankten – und jener der Beobachtenden, die im Versuch, das Verschwindende festzuhalten, selbst zu verschwinden drohen.

Ein Moment hat mich besonders berührt: der Blick auf eine Frau, die einst ihr Leben leben mochte – mit Lebenslust, mit eigenen Wünschen – und die später die schroffen Zurückweisungen ebendieser Wünsche verinnerlichte, um sie ihrer eigenen Tochter zuzufügen. Für mich verdichtet sich in dieser Szene eine Form struktureller Gewalt, die sich von Generation zu Generation weiterträgt. Ernaux schreibt:

„Dieser Satz, den sie früher oft sagte: ‘Man hat nur ein Leben’ (um zu lachen, gut zu essen, sich etwas zu kaufen). Aber auch, an mich gewandt: ‘Du willst zu viel vom Leben!’“
— Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus.

Diese Ambivalenz zeigt sich in einem schmerzhaften Wechsel der Perspektive: Aus dem eigenen, ungestillten Lebenshunger wird die Kritik am Lebenshunger der Tochter.

So wurde diese zufällige Begegnung in der Bahnhofsbuchhandlung zu einer Erschütterung meiner selbst, eine, die über mich auch keine Wiederauferstehungsfeier hinwegtrösten kann. Ernaux’ Text ist kein Eskapismus, er ist die dessen Negation; eine Erinnerung daran, dass das Wesentliche oft dort sichtbar wird, wo wir am liebsten wegschauen.

Hamburg, Ostersonntag, 20. April 2025

Annie Ernaux: Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus. Aus dem Französischen von Sonja Finck, Verlag: Suhrkamp (106 Seiten, 22 Euro), Erscheinungsdatum: 14. April 2025, ISBN: 978-3-518-22564-6

Buchcover: Suhrkamp

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